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Das Dogma der kulturellen Aneignung macht uns dumm

Es ist an der Zeit, sich davon zu verabschieden: Die Vorstellung, dass das Reden, Darstellen und Erzählen von Orten oder Menschen, die nicht zur eigenen kulturellen Tradition oder gar persönlichen Erfahrung gehören, eine Art kultureller Kolonialismus ist, ist an sich schon verrückt. Der Motor von Kunst und Literatur ist Kontamination

Das Dogma der kulturellen Aneignung macht uns dumm

Fragen unserer Zeit

Ein Roman über Sklaverei, ein Theaterstück über Flüchtlinge, ein Film über Homosexualität, ein Kunstwerk, das sich mit einer Minderheitengruppe befasst, sind zu so sensiblen Themen geworden, dass sie einen kulturellen Wendepunkt in der gesamten Kreativbranche bestimmen. Weniger für das Thema als für die Identität der Künstler. Wie und ist es richtig, ein weißer Autor über Sklaverei zu sprechen? Wie macht ein Regisseur, und stimmt das?, geboren und aufgewachsen in New York aus einer bürgerlichen Wespenfamilie, einen Film über Migranten? Es ist möglich, dass sich jemand mit einem Thema auseinandersetzt, das er nicht direkt erlebt hat, ohne dass ihm vor allem von den radikalen linken Rändern der amerikanischen Universitäten ein sehr schwerer Fehler, nämlich der der kulturellen Aneignung, angelastet wird. Ein echtes Kulturverbrechen, denn sich Erfahrungen anzueignen, die nicht zu seinem Leben, seiner Umgebung oder einem Teil seiner kulturellen Tradition gehören, um daraus ein Narrativ zu machen, ist gleichbedeutend mit einer hinterhältigen und widerlichen Form der Ausbeutung und Unterdrückung derer, die das Objekt davon sind missbräuchliches Geschichtenerzählen.

Der Psychoanalytiker Massimo Recalcati hielt eine Fernsehsendung über die Erfahrung der Mutterschaft, über die er in einem langen und interessanten Monolog mit einer Fülle von Details und einer Beschreibung intimer Empfindungen sprach. Am Ende fragte ein im Studio anwesender Zuschauer Recalcati sehr höflich, wie ein Mann über Mutterschaft sprechen könne, ohne sie direkt erfahren zu können. Eine berechtigte Frage, auf die der Mailänder Philosoph eine plausible Antwort gegeben hat: „Weil ich diesen Job mache“. In den USA wäre wohl der Teufel los gewesen, wenn sich eine Recalcati ähnliche Figur öffentlich mit einem ähnlichen Thema auseinandergesetzt hätte. Die meToo-Bewegung wäre auf die Barrikaden gestiegen und vielleicht hätte der diensthabende Kulturstripper einige Schwierigkeiten gehabt, seinen Beruf fortzusetzen oder gar im Supermarkt einzukaufen.

Ein ernstes und heikles Thema

Natürlich ist die Frage der kulturellen Aneignung ein sehr ernstes Problem in jenen Ländern wie Amerika, Australien oder Neuseeland, wo die einheimische Bevölkerung effektiv ihrer Identität und ihrer Kultur beraubt wurde. Und tatsächlich führen diese Nationen ohne allzu viel Aufhebens eine fleißige Reue durch. In Neuseeland hat der Oberste Gerichtshof anerkannt, dass alle Meeres- und Wasserressourcen den Maori gehören und die Pakeha diese Zugehörigkeit respektieren müssen. Auch in Tansania, wo die indigene Bevölkerung ausgestorben ist, muss dieser zwar verspätete, aber lobenswerte Verlauf der Geschichte behoben werden.

Aber im Allgemeinen ist das, was war, Geschichte, und Geschichte ist. Heute haben sich die Kulturen so sehr kontaminiert, dass es schwierig ist, die unterschiedlichen Zugehörigkeiten klar zu unterscheiden. Bei der Suche nach ihnen, ihrer Wiederherstellung und ihrem Schutz, einer zweifellos legitimen Operation, besteht die Gefahr, dass eines der Postulate liberaler demokratischer Zivilisationen, nämlich die Meinungsfreiheit, überschritten und schließlich gebrochen wird. Eine liberale Denkfabrik wie das Londoner Magazin „The Economist“ unterstreicht dieses Risiko, das der Frage der kulturellen Aneignung innewohnt, und warnt immer wieder vor den möglichen autoritären Tendenzen einer revisionistischen und kriegerischen Haltung radikaler linker und alt-rechter Gruppen gegenüber sensiblen Themen zu Minderheiten und ihr Verhältnis zu den Mehrheiten. So hat Trump zum Beispiel viele Stimmen mit dem Refrain bekommen, dass Weiße vom liberalen Establishment von anderen ethnischen Bestandteilen der amerikanischen Bevölkerung zurückgehalten werden.

Was passiert ist, dass das Konzept der kulturellen Aneignung zum Dogma wird und sich weit über die lautstarken Präsentismus-Aktivisten hinaus verbreitet, um die kulturellen Institutionen einzuschließen, die die Kreativbranche durchdringen, wie Verlage und Produktionsfirmen, die beginnen, sich von Themen fernzuhalten, die das tun könnte den scharlachroten Buchstaben anziehen. Verlage sind sehr nervös, wenn sie ein Angebot erhalten, das diese Konnotation haben könnte: Sie befürchten negative Kritiken, schlechte Publicity und Reputationsverlust. Inzwischen ist klar, dass soziale Medien, die eine sehr breite Meinungsbildung betreiben, von radikalisierten Gruppen oder von Logiken kontrolliert werden, die eher Sensationsgier als Informationsgenauigkeit folgen.

Eine gefährliche Erweiterung

Ein Schriftsteller wie Lionel Shriver, der heute in Großbritannien lebt und dessen Staatsbürgerschaft er übernommen hat, widerlegte 2016 in einer zitierten Rede, Fiction and Identity Politics, im australischen Brisbane die These der kulturellen Aneignung, in der Hoffnung, es handele sich um ein „passing Laune". In einem späteren Beitrag werden wir in italienischer Übersetzung die Intervention der angloamerikanischen Schriftstellerin veröffentlichen, die für ihren neuesten Roman The Mandibles (I Mandible. Una famiglia, 2029-2047, gerade erschienen in Italien) , wo ein lateinamerikanischer Präsident Amerika in den Abgrund reißt und wo eine der Protagonistinnen, die an Demenz erkrankte Afroamerikanerin Luella, den Verstand verliert und sich durch unwahrscheinliche Reime ausdrückt. Elena Gooray, Journalistin und stellvertretende Herausgeberin des Pacific Standard, einer liberalen Zeitschrift, die von der „The Social Justice Foundation“ aus Santa Barbara in Kalifornien herausgegeben wird, schrieb, dass Luella die Skizze einer schwarzen Frau ist, die durch die Krankheit entmenschlicht wurde, um in erster Linie etwas darüber zu enthüllen ein weißer Mann in einer Machtposition. Was wäre, wenn das der Fall wäre? Es ist Fiktion!

Seit 2016 haben sich die Dinge verschlechtert und die Kontroverse beschränkt sich nicht nur auf Bücher oder den akademischen Bereich. Der Kulturredakteur des britischen Magazins „The Economist“ Andrew Miller hat einen kurzen Katalog der mutmaßlichen Fälle kultureller Aneignung zusammengestellt, die einen Twittersturm ausgelöst haben. Er war ein weißer amerikanischer Dichter, der in einigen seiner Gedichte die afroamerikanische Umgangssprache verwendete; es war eine Show in Montreal, wo weiße Künstler Lieder über Sklaverei sangen; war ein weißer englischer Koch, der jamaikanische Gerichte kochte; war ein junger Highschool-Schüler aus Utah, der zum Abschlussball ein Kleid im chinesischen Stil trug.

Es ist nicht so, dass diese kulturellen Denunziationen, die von den Winden der sozialen Medien getragen werden, völlig unbegründet sind. Kreative und Menschen müssen bei ihren Streifzügen in andere Kulturen fleißig und nicht nachlässig sein, und ihr Streifzug muss faule Stereotypen vermeiden, die oft respektlos gegenüber Vielfalt und der Geschichte selbst sind. Jemand, verdammt!, könnte es wirklich schlecht nehmen oder vielleicht einen unschuldigen Witz wörtlich nehmen. Der Kulturkolonialismus ist wie der Kolonialismus tout-court ein verwerfliches Phänomen, aber es muss im Kampf der Ideen ausgerottet werden, nicht durch Steinigung. Der Punkt ist, dass soziale Medien mit ihrem viralen Mechanismus letzteres mehr bevorzugen als ersteres. Was lässt sich bei 280 Zeichen sinnvoll argumentieren, wenn nicht mit Slogans, Beschimpfungen oder Höflichkeiten ausgebrütet.

Ist Selbstzensur besser?

In seiner Substanz die Idee, dass das Sprechen, Darstellen und Erzählen von Orten oder Menschen, die nicht zur eigenen kulturellen Tradition oder gar persönlichen Erfahrung gehören, eine Art kultureller Kolonialismus ist es ist an sich schon verrückt. Wenn es Männern nicht erlaubt gewesen wäre, über Frauen zu sprechen, hätten wir weder Madame Bovary noch Anna Karenina gehabt. Wenn andererseits Frauen das gleiche Verbot erhalten hätten, hätten wir nicht Hilary Mantels großartige Trilogie über Thomas Cromwell, den Tudor-Politiker und Höfling, ein Werk, das zum zweiten Mal in Folge den weltweit größten Literaturpreis gewonnen hat Jahre. Niemand hat dem kämpferischen englischen Schriftsteller bisher kulturelle Aneignung vorgeworfen, aber es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, ob man sich entschließt, diesem Dogma bis in seine extremen und logischen Konsequenzen zu folgen, die brutal binär sind. An dieser Stelle würde der Purismus die Aufgabe des Registers einer edlen und alten Kunst wie der Parodie erfordern. Mel Brooks-Filme sollten wie The Last Tango verbrannt werden. Sogar Satire könnte auf die schwarze Liste gesetzt werden. Dann wäre es kulturelle Wüstenbildung: „Desertum fecerunt et pacem appellaverunt“. Politische Korrektheit ist eine ernste Angelegenheit, aber ihre Grenzen sind nur schlecht gezogen und Zäune eine anspruchsvolle Übung ebenso wie die kapitalistischen. Darüber hinaus hat die politisch Korrekte am Ende das Gegenteil von dem, was sie zu bekämpfen vorschlägt, radikalisiert Ideen und führt Zensur ein, oder noch schlimmer Selbstzensur, Samizdat. Einer der spekulativsten und visionärsten Köpfe des Silicon Valley, Peter Thiel, hat beschlossen, Trump zu unterstützen, weil er von der albernen Litanei der politischen Korrektheit, dem Evangelium des Valley, angewidert ist.

Wenn die politische Korrektheit zum Dogma wird, dann bleibt den Kreativen nur noch eine Möglichkeit, über sich selbst zu sprechen und sich selbst darzustellen. In diesem Fall könnte die Selbstzensur nur Werke bzw. Meisterwerke wie My Brilliant Friend von Elena Ferrante oder My Struggle von Karl Ove Knausgaard herausfiltern, auch wenn letzterem der Vorwurf auferlegt werden könnte, sich die Geschichten anderer Personen angeeignet zu haben, wie z als Familie, Freunde und Bekannte. Und tatsächlich mangelte es dem Schriftsteller aus Bergen nicht an Kopfschmerzen.

Der Punkt ist das der motor von kunst und literatur ist die kontamination von Erfahrungen und Kulturen und der Ausstieg aus dem herrschenden Kanon. Die Phobie der kulturellen Aneignung macht diesen Weg des Verstehens und der Weitergabe von Erfahrungen, die sich von den eigenen unterscheiden, zunichte.

Das Dogma der kulturellen Aneignung würde uns wirklich noch mehr zum Arschloch machen, als wir es ohnehin schon sind.

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